Tourismus im Umbruch

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„Kürzere Saisonen bringen oft eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation mit sich. Allerdings ist das betriebs- und volkswirtschaftlich zu kurz gedacht.“
Die klassischen Saisonzeiten haben im heimischen Tourismus zwar noch nicht ausgedient, sie sind aber immer seltener das Modell der Wahl. „Wir vertreten über 500 Hotelbetriebe, insbesondere in der Ferienhotellerie. Da beobachten wir, dass die Öffnungszeiten schon zunehmen“, sagt Thomas Reisenzahn, Geschäftsführer der Prodinger Tourismusberatung. Die größten Möglichkeiten zur Entzerrung von Urlaubs- und Reisezeiten sieht er auf Betriebsebene. „Bei 365-Tage-Betrieben sehen wir eine gewisse Spezialisierung und Differenzierung am Markt.“ Dadurch seien sie viel unabhängiger und können Saisonzeiten ausdehnen bis hin zum Ganzjahrestourismus. Der Gesundheits- und Wellnesstourismus profitiere sogar besonders in den Zwischensaisonen, und auch der Sport- und der Medical-Tourismus können ganzjährig punkten. Es gehe darum, sich von der Konkurrenz abzuheben: „Bei Spezialisierungen sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt“, so der Experte. Wer das nicht mache, sei den normalen Saisongegebenheiten ausgesetzt.
Entzerrungsmöglichkeiten können sich außerdem in anderen Märkten finden lassen. Auch wenn der Großteil der Gäste in Tirol aus Deutschland kommt, lohne sich ein Blick außerhalb des deutschsprachigen Raums. Reisenzahn fallen sofort konkrete Beispiele ein: „US-Amerikaner:innen reisen traditionell gerne im Frühjahr. Tourist:innen aus Großbritannien sind recht wetterunabhängig, da könnte man den Herbst gut nützen. Und arabische Gäste kommen auch gerne in kühleren Monaten wie Oktober oder November.“
Ferienabhängigkeit
Öffnungszeiten von Betrieben und Infrastruktur hängen
stark von den Ferienzeiten ab, österreich- und
europaweit. „Entzerrungswünsche von Schulferien hat es
schon öfter gegeben, aber da bohrt man in dicke
Bretter“, so Reisenzahn. „Man merkt allerdings gewisse
Änderungen, auch von Seiten des Lehrpersonals. Die
klassischen Sommerferien werden einfach sehr, sehr heiß
werden.“ Die Herbstferien, die es in Österreich seit
wenigen Jahren gibt, würden aber schon zur Verteilung
beitragen.
Im kommenden Winter seien die Ferienzeiten recht gut aufgeteilt, der frühe Ostertermin Ende März spreche laut dem Experten aber eher für eine kurze Saison, denn nach Ostern sei es schwierig, Menschen noch zum Skifahren zu bewegen. Reisenzahn wirft dabei einen Blick in die Vergangenheit: „Es hat früher schon tolle Initiativen zum Sonnenskilauf gegeben. Das wird ja zum Beispiel am Arlberg oder in Ischgl praktiziert. Aber ich denke, dass auch tiefer gelegene Skigebiete um die 1.000 Meter das im April noch bewerkstelligen könnten.“ Dafür brauche es eine gute Zusammenarbeit zwischen Betrieben, Bergbahnen und Tourismusverbänden.
Zu kurz gedacht
Nicht alle Touristiker:innen sehen entzerrte oder gar
ganzjährige Betriebszeiten als Chance, denn: Kürzere
Saisonen, also eine Reduzierung der Öffnungszeiten,
würden oft eine Verbesserung der wirtschaftlichen
Situation mit sich bringen. „Allerdings ist das
betriebs- und volkswirtschaftlich zu kurz gedacht“, sagt
Reisenzahn. „Es haben noch nie so viele Menschen im
Tourismus gearbeitet, trotzdem sucht jeder Betrieb
händeringend nach Personal.“ Eine Entzerrung könne dem
entgegenwirken, denn Ganzjahresjobs seien einfach
attraktiver. Man müsse versuchen, Mitarbeiter:innen so
lange wie möglich in Beschäftigung zu halten. „Man kann
ja die Menschen nicht einfach in die Arbeitslosigkeit
schicken. Dann werden sie irgendwann abwandern. Viele
Beschäftigte wollen länger arbeiten, es geht ihnen um
Pensionszeiten und -höhen.“ Die Saisonen sollten daher
nicht nur für die Gäste und das Geschäft, sondern auch
für die Angestellten erweitert werden. „Klassische
Saisonarbeiter:innen, die die Spitzen und Hauptsaisonen
abdecken, wird es aber immer geben.“
Zur Person:
Thomas Reisenzahn
ist Geschäftsführer der Prodinger
Tourismusberatung mit Standorten
in Wien und Zell am See. Davor war
er unter anderem zehn Jahre lang
Generalsekretär der Österreichischen
Hoteliervereinigung (ÖHV).
Starke Veränderungen
Sorgen bereitet Reisenzahn ein Detail der Reise-analyse
2023. Bei dieser Befragung gaben immerhin 30 Prozent
aller deutschsprachigen EU-Bürger:innen an, dass sich
ihre persönliche wirtschaftliche Lage verschlechtert
habe oder voraussichtlich verschlechtern werde. Das sei
eine Ausgangssituation, die zusätzlich zum frühen
Ostertermin eher für eine kurze Saison spreche. „Die
preissensiblere Wintersaison 2023/24 könnte daher zur
entscheidenden Gretchenfrage im Tourismus werden.“
Generell sei der Tourismus in vielen Bereichen in Brüchen, sagt Reisenzahn. Schuld daran sei auch die Pandemie. „Wir sehen einen Wandel von einer Erlebnisgesellschaft hin zu einer Sinngesellschaft. Menschen sehnen sich eben nach etwas Sinnvollem, das sie im Alltag umsetzen und integrieren können.“ Genau das könne für Betriebe eine große Chance sein, sich in diese Richtung weiterzuentwickeln, vor allem auch in Richtung Ganzjahrestourismus.
Notwendige Anpassung
Ein weiteres relevantes Phänomen, auf das
Touristiker:innen allerdings wenig Einfluss hätten, sei
der Klimawandel. Die Sommer werden immer heißer und die
Winter immer wärmer – auch aus diesem Grund müsse es
zwangsläufig ein Umdenken in Richtung Entzerrung geben.
„Letzten Winter waren die Schneebedingungen im
Spätwinter und um Ostern am besten. Das führt natürlich
zu einer Verschiebung der Reisezeiten“, sagt Reisenzahn.
Dafür werde zu Saisonbeginn die Schneelage von Jahr zu
Jahr unsicherer. „Skiindustrie und Bergbahnen können
nicht mehr mit den perfekten weißen Pisten in die
Werbung gehen. Stattdessen müssen sie andere Themen wie
zum Beispiel die Kulinarik im Programm aufnehmen.“
In Tirol zeichnet sich laut Reisenzahn schon eine Entwicklung in diese Richtung ab: „Wir haben das große Glück, dass sich in Tirol in den letzten Jahren schon eine dritte Saisonzeit herausgebildet hat, nämlich der Herbst.“ Damit sei vor allem der Wander- und Naturtourismus gemeint. Das sei ein Schritt in die richtige Richtung, wobei für eine wirkliche Entzerrung noch weitere Herausforderungen anstehen würden.
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